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N’garisha – Lass dein Leben leuchten

Bild1: N’garisha – Lass dein Leben leuchten

20.11.2024

Unternehmer aus Petershagen-Eggersdorf unterstützt seit vielen Jahren Kinderprojekt in Mombasa

Vorsicht, stoßt euch nicht den Kopf. Achtung, hier wird’s eng! Was? Noch enger - das geht doch gar nicht. Die kleine Gruppe ist zu Besuch in Nyali. Das ist ein Stadtteil von Mombasa, nach Nairobi mit 1,2 Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt Kenias. In Nyali leben rund 80 000 Menschen. Geschätzte 10 000 von ihnen sind in einem Slum „zu Hause“. Sie leben dort auf einer Fläche von fünf Arces, das entspricht etwa zwei Hektar. Und dorthin führen Carol Matira Anami und ihr Ehemann Burkhard Paulat, er kommt aus Petershagen-Eggersdorf (Märkisch-Oderland), ihre Gäste aus Deutschland. Sie werden schon erwartet. Die schmale, kaum anderthalb Meter breite staubige Gasse wirkt fast sauber gefegt.
Kleine Kinder lugen scheu hinter Stapeln von Brettern oder Kleiderhaufen hervor. Größere kommen, um neugierig zu erkunden, was da gerade vor sich geht, denn weiße Menschen verirren sich höchst selten hierher. Eine Frau, vielleicht ist sie Mitte/Ende 30, hält ihr jüngstes Kinder fest im Arm, zwei weitere klammern sich an ihr langes, buntes Kleid. Neun Kinder hat sie. Ihre älteste Tochter Amina, gerade 21, ist hochschwanger. Ein Mann oder Vater zählen nicht zur Familie, die auf rund zehn Quadratmetern haust. Die tägliche Not ist so unendlich groß, dass sich Frauen Männern hingeben, um an Essen für die Kinder zu kommen. Mit dem Ergebnis, dass die Familie wächst und wächst.

Verhütungsmittel sind hier unbezahlbar

Carol Anami ist sauer. Sie kennt das schwangere Mädchen schon länger, das sich sichtlich schämt und beide Hände vors Gesicht schlägt. Amina war eine Zeit lang eines von den Mädchen und Jungen, die sich regelmäßig auf Carols Hof, dem N’garisha Youth Center treffen. Nicht nur ihre Schwangerschaft resultiert aus der Tatsache, dass Verhütungsmittel nicht zur Verfügung stranden oder beschafft werden konnten.
Ein paar Meter weiter sitzt eine Frau auf einem Haufen alter Kleider. Für sie ist das kein Müll, es ist ihr einziges Hab und Gut. Sie starrt blicklos ins Leere. Obwohl hier nichts zu holen ist, wurde sie überfallen. Dabei kamen zwei ihrer Enkel ums Leben, denn das Wellblechdach fiel auf sie runter. Keiner baut es wieder auf. Oder ihre Nachbarin, die versucht ihre Enkel zu versorgen, weil deren Eltern an Aids starben. Und nun droht ihnen auch noch die Vertreibung aus dem Slum, weil sie für die Miete ihrer Hütten nicht mehr aufkommen können – denn das Areal ist in Privatbesitz! Umso mehr fallen da die blitzsauberen Schuluniformen auf dem Haken an der Wand auf. Und auch hier kommt Carol Anami wieder ins Spiel.

Auch über den Zaun geschaut

Der kurze Einblick in das Dasein der Ärmsten der Armen ist für die Gäste aus Deutschland schier unerträglich. Umso größer wird ihre Hochachtung vor der Leistung, die Carol Anami und Burkhard Paulat hier schon seit vielen Jahren vollbringen. Paulat, Chef einer brandenburgischen Gerüstbaufirma, und seit über 30 Jahren Gemeindevertreter in Petershagen-Eggersdorf, kam kurz nach der Wende zum ersten Mal nach Mombasa. Wie so viele Afrika-Touristen genoss er die Wärme des Indischen Ozeans, den Blick darauf von der Terrasse seines Hotels aus. Aber er machte auch Bekanntschaft mit dem umgebenden Elend außerhalb der streng gesicherten Grundstücke. So übernahm er über das in der Stadt agierende SOS-Kinderdorf eine Patenschaft für einen Jungen und unterstützte ihn, so weit als möglich, auf dem Weg durch die Schuljahre. Danach folgte die Patenschaft für ein Mädchen. Das war Magrita. „Ein sehr intelligentes Kind mit großem Ehrgeiz, das mit Begeisterung die ihr gebotene Chance auf Bildung ergriff“, erinnert sich Burkhard Paulat. Über Umwege lernte er später deren Mutter Carol Anami kennen und lieben.

Bekannt auf Instagram und Tiktok

Carol Anami ist in Mombasa durchaus keine Unbekannte. Die heute 52-Jährige arbeitete zuerst in der Hotelbranche und darüber hinaus als Model und sogar als Schauspielerin. Als ihre Tochter, das Patenkind von Paulat, vor zwölf Jahren an einer Infektionskrankheit, die nicht rechtzeitig behandelt werden konnte, tragisch verstarb, kam sie zum Glauben. Seitdem ist sie eine der bekanntesten Sängerinnen selbst getexteter und komponierter Gospel-Songs auf Tiktok und Instagram. Darüber hinaus engagiert sie sich schon seit über 20 Jahren für benachteiligte Kinder aus dem Slum in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft. Vor nunmehr 14 Jahren gründete sie das N’garisha Youth Center auf ihrem Grundstück.

Lebensfreude pur

Übermütig schallen Kinderstimmen vom Hof her. Über 100 Mädchen und Jungen liefern sich ein fröhliches Gesangsduell. Immer lauter, immer lebhafter wird es. Lebensfreude pur! Kaum zu glauben, dass das die scheuen Kinder aus dem Slum sind. Hier, bei Carol Anami und ihren Helfern, können sie Kinder sein. „Darum geht es mir vor allem“, sagt sie und hat wie immer alle Hände voll zu tun mit der Organisation. Es gibt zur traditionellen Jahresfeier des Treffs eine Party. Mit dem traditionellen Reisgericht Pilau und sogar Torte für alle. Ein großes Zeltdach wird aufgebaut, Stühle werden herangeschafft – alles stammt aus der aufgegebenen alten Schule in Petershagen, wo Paulat Mobiliar vor dem Wegwerfen gerettet und hierher gebracht hat. In der ersten Reihe nehmen die örtlichen Honoratioren Platz. Bernhard Omolo ist Chief von Nyali – Stadtteilbürgermeister -, Philliph Kerrero und Thomas Ruwaa sind als Chief Assistents seine Stellvertreter. Anders als es in Deutschland bei Jubiläen gang und gäbe ist, sind sie nicht mit Geschenken gekommen. Carol Anami fühlt sich dennoch geehrt, weil sie die Gäste für ihr Erscheinen, wie ansonsten in diesem Land üblich, nicht extra bezahlen musste …
Die Party nimmt ihren fröhlichen Verlauf. Ein von den Kindern und Jugendlichen einstudierter Sketch erzählt aus ihrem Leben. Hier wird über die Episode gelacht, in der der Vater ein Trinker ist, die Mutter immer nur am Handy hängt, die Kinder Hunger haben und sich selbst überlassen sind. Das entspricht eben ihrem Alltag. Es wird gerappt und gesungen. Carol Anami steigen Tränen der Rührung in die Augen, als der 14-jährige Kofi ein Lied singt, in dem es um sie und um ihre ganz besondere Fürsorge geht., „Mama N’garisha“ heißt es da immer wieder, was sinngemäß „lass dein Leben leuchten“, bedeutet.
Dieses Leuchten in den Augen der Mädchen und Jungen zu erzeugen, haben sich Carol Anami und ihre Freunde zur Aufgabe gemacht. Immer donnerstags und sonnabends strömen nach Alter geordnet um die hundert Mädchen und Jungen zwischen einem und 22 Jahren herbei. Dabei geht es in erster Linie darum zu lernen, wie man sich benimmt, wie man ordentlich auf einem Stuhl sitzt, man sich die Hände vor dem Essen wäscht. Für die Mädchen gibt es eindringliche sexuelle Aufklärung. Und deshalb ist Carol auch so empört, wenn die jungen Frauen gegen ihren Willen geschwängert werden, wie es Amina geschehen ist.

Bildung als einziger Weg aus dem Slum

Vor allem ist wichtig für ein Rauskommen aus dem Slum und Vorankommen im Leben, dass man nicht nur seine Muttersprache spricht - es gibt rund 40 unterschiedliche Dialekte –, sondern dass man die Landessprache Suaheli beherrscht und schließlich auch die Amtssprache Englisch.
„Damit es Spaß macht, wird viel gesungen und getanzt. Es lernt sich so auch viel leichter. Die Großen achten immer auf die Kleinen“, sagt Carol. Und zum Abschluss einen Unterrichtstages gibt es für jedes Kind einen Keks und einen Becher einfachen, mit Sirup gesüßten Wassers. Bei vielem hat sie fleißige und engagierte Unterstützung von Jugendlichen wie Winny, der inzwischen 26 Jahre alt ist und zuvor viele Jahre lang selbst ins Youth-Center gekommen ist. Aber auch der inzwischen 36-jährige Daniel ist dabei, um nun mitzuhelfen. Ihm hat dieser Weg sehr genutzt, denn er hat eine Anstellung gefunden und kann für seinen sechsjährigen Sohn Paul sorgen.

Petershagen-Eggersdorfer Förderverein hilft, wo er kann

„Eine vernünftige Schulausbildung ist die unbedingte Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben“, begründet Burkhard Paulat, der seit inzwischen über 20 Jahren stetig zwischen beiden Welten pendelt, sein Engagement in Mombasa. Er hat, um mehr Leute in die Hilfe einzubeziehen, in Petershagen-Eggersdorf den Förderverein „N’garisha Youth Center“ gegründet. Auch, weil er feststellen musste, dass Geldspenden für Kinder in Afrika über so manche andere Organisationen eben nicht direkt bei den Ärmsten und Bedürftigen ankämen. Inzwischen haben etliche Randberliner erkannt, dass das ein guter Weg ist, solidarisch Hilfe zu leisten, die auf kurzem und direktem Weg wirkt und traten dem Förderverein bei. „Uns geht es jedenfalls nicht um das übliche Vereinsleben, sondern darum, direkt und ohne Bürokratie vor Ort zu helfen.“ Als ein Beispiel dafür nennt Paulat das Rechtsanwaltsehepaar Susann und Burkhard Herzog aus Petershagen, das seit einem Kenia-Besuch Hilfe leistet. „Als Förderverein können wir dafür natürlich Spendenquittungen ausstellen“, sagt Paulat, der über den Ort hinaus auch als engagierter Vorsitzender des Sportvereins Blau-Weiß Petershagen-Eggersdorf bekannt ist.
Die Verbindung zwischen Carol Anami und Burkhard Paulat, die vor vier Jahren in Mombasa geheiratet haben, ist noch aus einem weiteren Grund unzertrennlich geworden. Carols inzwischen 30-jähriger Sohn Gerry lebt in Deutschland bei Burkhard Paulat und hat hier erfolgreich eine Berufsausbildung absolviert.

Sportverein bringt Geschenke

Derweil geht das große N’garisha Youth Center-Fest einem weiteren Höhepunkt entgegen. Die Gäste aus Deutschland haben nämlich Geschenke mitgebracht. Peter Drews, seines Zeichens Präsident der Fußballabteilung von Blau-Weiß, und seine Frau Nicole haben alle Hände voll zu tun, um Fan-Tücher, Fußbälle und anderes an die Mädchen und Jungen zu verteilen. Auch Süßigkeiten sind darunter, die neugierig angenagt und sogar weitergereicht werden, damit der Freund auch in deren Genuss kommt.
Dann ist es soweit. Für zwölf neue Schuluniformen hat das Geld dieses Mal gereicht. Amina, Kevin, Rushdi, Malongo, Austin, Michi, Gerry, Gergson, Sagra, Daniel, Steve und Mdala sind die aktuell Glücklichen. Für sie kann es nun mit dem Unterricht in einer der drei Bildungsstufen weitergehen. Flink ziehen sie sich um und präsentieren sich stolz in ihrer neuen Kleidung. Viel Beifall bekommen sie – sogar die Chiefs klatschen mit. Und die anderen Mädchen und Jungen hoffen inständig weiterhin, dass es auch für sie bald soweit sein wird.


Es gab die politische Entscheidung, Suaheli zur Nationalsprache zu machen, was aber keine rein afrikanische Sprache ist, sondern eine durch den Sklavenhandel entstandene Mischung aus afrikanischen Dialekten, Arabisch und portugiesischen Brocken. Englisch ist die offizielle Amtssprache.

Trotz der inzwischen neunjährigen Schulpflicht in Kenia stellt der Schulbesuch eine große finanzielle Hürde für die Eltern dar. Eine Schuluniform, die für die Aufnahme auch in eine staatliche Schule Voraussetzung ist, kostet umgerechnet 14 Euro - unerschwinglich für viele Familien. Ebenso müssen Schreib- und Rechenhefte selbst mitgebracht werden, hinzu kommt das Schulgeld.

Irina Voigt/Fotos Edgar Nemschok

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